Volkstrauertag am 14. November 2004 am Mahnmal


- Ein Zeitdokument -

Ansprache des Bürgermeisters R. Düppe anlässlich des Volkstrauertages 2004 am Ehrenmal

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Es gilt das gesprochene Wort!)

 

Im Namen des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge – Ortsverband Menden – heiße ich Sie zu dieser Gedenkfeier der Millionen Toter und Gefallener beider Weltkriege willkommen.

Wir treffen uns hier nicht aus lauter Tradition, weil es am Volkstrauertag so üblich ist, sondern um der Toten, Verfolgten, Geschändeten beider Kriege, der Toten an der ehemaligen Mauer – die Deutschland teilte – zu gedenken.

 

In der Presse war in dieser Woche zu lesen:

„Jeder dritte hat’s vergessen“ – 15 Jahre danach – längst nicht jedem ist der Mauerfall bewusst.

 

Ø  Darum sind wir hier: um bewusst zu machen und nicht zu vergessen, um zu Mahnen und aufzurütteln und zum

        Engagement für Frieden, Demokratie und Freiheit aufzurufen!

 

Ø  Der Volkstrauertag ist ein bedeutender Bestandteil unserer Erinnerungskultur.

 

Es ist ein Tag des Innehaltens, des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft sowie ein Tag der Solidarität mit ihren Familien. Er konfrontiert uns mit der Vergangenheit und dem Auftrag, das Vermächtnis der Opfer zu erfüllen, indem wir uns nachhaltig für ein friedliches Zusammenleben einsetzen.

 

Ich appelliere an alle Generationen, sich dieser Verantwortung heute und in der Zukunft zu stellen.

 

Quelle:  P. Schälte (Sekretariat des Bürgermeisters)

Die Schülerin des Walramgymnasium Kristina Hink verlas ein Gedicht zum Thema Krieg.

 Dechant Bernhard Brackhane

 

Gedenkrede zum Volkstrauertag 2004

  

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

  

1. Die staatlichen Feiertage unseres Landes stellen unter allen in Deutschland lebenden Menschen eine besondere Verbindung her ‑ jenseits von Herkunft, Weltanschauung und Geschlecht. Sie wollen eine Erinnerung festhalten, eine bestimmte Idee hervorheben, die für alle von Gewicht ist. Das gilt besonders für den jüngst begangenen schützenswerten Tag der Deutschen Einheit. Er ist einen eigenen freien Feiertag wert. Der diesjährige 15. Jahrestag der Überwindung der Berliner Mauer gibt allen Anlass, das festzuhalten und zu betonen. Und wenn wir feststellen sollten, das wir im Begehen und Gestalten solcher Anlässe unsicher sind, dann könnten wir unsere Phantasie spielen lassen und versuchen dazuzulernen. Fünfzig Mendenerinnen und Mendener waren Ende Oktober in Wittenberg, Eisleben und Erfurt und haben dort auf dem Hintergrund der älteren und der jüngeren Geschichte wertvolle und bereichernde Begegnungen gehabt.

 

2. Auch der heutige Feiertag, der Volkstrauertag, verbindet die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in besonderer Weise: Er führt uns zusammen im Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Dieser Tag erinnert uns daran, das jedes Menschenleben wertvoll und schützenswert ist, das jeder Mensch sich sehnt nach Glück und Bejahung, und das er danach trachtet, nicht zu leiden. Dieser Tag erinnert uns daran, das jeder Mensch ‑ als einziges Lebewesen auf der Erde ‑ fähig ist, zu lieben und über sich hinauszudenken ‑ und nachzudenken über das "Danach". Dieser Tag mahnt uns, das jede und jeder sein Leben verantwortlich zu gestalten hat. Dieser Tag erinnert uns aber auch daran, das jede und jeder beschenkt ist mit unverwechselbarer Individualität, mit Begabungen und Hoffnungen, und das jede und jeder ein Recht hat, sich zu entfalten, sofern nicht die Rechte eines anderen Menschen beschnitten werden. Und jeder einzelne Mensch, der aufgrund oder infolge eines Krieges umkommt, ist einer zu viel.

  

3. Als ich ‑ als Neubürger Mendens ‑ vor vier Jahren zum ersten Male an diesen Ort kam, war ich erschüttert und getroffen von seiner Gestaltung. Dem Ernst dieses Platzes und seiner großen Mauern kann man sich kaum entziehen. Sie lösten widersprüchliche Assoziationen in mir aus: ich dachte an den Appellplatz eines Lagers; ich dachte an Mauern, die zu Orten gezielter Exekutionen wurden. Dieser Ort wirkt wie ein überdimensionales Grabmal oder etwas, das man vor hundert Jahren eine "Weihestätte" genannt hätte. Am erschütternsten und gleichzeitig befremdlichsten traf mich aber die Ähnlichkeit mit einer Opferstätte: Im Zentrum schaut man einen toten Krieger ‑ nicht in stolzer Pose, in Uniform mit trotzigem Blick; auch nicht dahingesunken und von einem Engel gestützt und mit Lorbeer bekränzt, wie man es in der Kaiserzeit gern darstellte, sondern in ungeheuer gesteigerter Aussage: hingestreckt, nackt, als Opfer ‑ geschlachtet auf einem Opferstein, einem Altar. Nur der Stumpf des Schwertes macht den Toten als Kämpfer kenntlich. Dieses Opfer allerdings sprengt alle Dimensionen: es ist überlebensgroß; es überragt noch den massiven Altar. Angesichts dieses großangelegten Mahnmals kommt einem das frühere, heute nicht mehr nachvollziehbare Stichwort vom "Heldengedenktag" in den Sinn. Die hier optisch zentrierte und in Szene gesetzte Aussage ist: Der hier gab alles, zuletzt sein Leben; er erlebte keinen Sieg, er erreichte kein Ziel – untergegangen zwar ‑ geopfert ‑ aber ein Held.

  

4. Die religiöse Assoziation der Begriffe "Opfer" und "Altar", die uns bei unserem Mahnmal vor Augen gestellt wird, ist im Zusammenhang mit dem Thema Krieg und seinen unseligen Folgen berechtigterweise suspekt. In der Religionsgeschichte gelten Opfer einer Gottheit. Es soll sie zur Gewährung einer Bitte motivieren, Unheil abwenden oder sie durch Sühneleistung wieder gnädig stimmen. Aber wem hätte dieses Opfer gelten können? Wer war der Handeln­de? Wem könnte dieses Opfer zugutekommen? Wer "profitiert" davon?

  

5. Diese Gedenkstätte unserer Stadt veranlasst mich inzwischen zu anderen Überlegungen: Kriegen bringen ja nicht nur tote Soldaten hervor. Wir müssen hinzufügen, hinzudenken und hinzu‑erinnern, das im Krieg Millionen Zivilisten ‑ Mehrheiten und Minderheiten ‑ Men­schen bestimmter Abstammung ‑ Andersdenkende ‑ oder aus bestimmten Gründen Nicht ­Akzeptierte ‑ und darunter vor allem Frauen und Kinder unschuldige Opfer brutaler Gewalt wurden und werden. Sie werden nicht geopfert, sondern sie werden hineingerissen in den Strudel von Gewalt und Macht, die andere missbrauchen, nur weil sie stärker sind. Aber wer übernimmt dafür spürbar und wirksam die Verantwortung? Das eine Granate ein Kranken­haus trifft? Wer büßt die Schuld dafür, das eine versteckte Tretmine Kinder verstümmelt ?

  

Der Krieg pervertiert alles: Die Einzelnen und die Gesamtheit. Menschen parteien sich in Freund und Feind; individuelle Menschen ‑ Ehepartner, Freunde, Kollegen, Nachbarn ‑ wer­den zu "militärischen Einheiten", friedliche Bürger zu "Streitkräften"; Landschaften zu Schlachtfeldern. Unser Mahnmal stellt ‑ wenn wir es nicht als Heldengedenkstätte betrachten ‑ das zynische Motto früherer Zeiten "Viel Feind' ‑ viel Ehr... infrage: am Ende bleibt nämlich nichts: keine Uniform, kein Rangabzeichen, kein Orden. Der Tod behandelt sie alle gleich ‑ wie es schon die mittelalterlichen Totentanzdarstellungen zeigen: Kaiser, König, E­delmann ‑ Bürger, Bauer, Bettelmann ...

  

6. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Jahreszahlen unseres Mahnmals sind uns vertraut, da sie Beginn und Ende der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts markieren. Heute jedoch wird uns noch einmal. deutlich, das das ursprünglich unscheinbare Jahr 2004 ein be­sonderes Gedenkjahr ist:

 Vor 90 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 65 Jahren der Zweite.

 

60 Jahre ist es her, das deutsche Offiziere ein Attentat auf Hitler riskierten und damit scheiter­ten. Ebenfalls 60 Jahre sind seit dem Warschauer Aufstand vergangen und seit dem D‑Day, dem Decision ‑ day, an dem die Alliierten in der Normandie landeten, mit dem das Niederrin­gen des Nazi‑Regimes begann.

  

Diese "Gedenkzahlen" machen uns bewusst, das nicht glorreiche Siege sondern die militärischen Niederlagen sich für unser Land positiv ausgewirkt haben: Der verlorene Erste Welt­-krieg beendete die kolonialistische Großmannssucht der Kaiserzeit und ermöglichte die de­mokratische Ordnung der Weimarer Republik. Aus der bitteren Erfahrung des Dritten Reiches und seines Unterganges erwuchs eine erneuerte ‑ letztlich partnerschaftliche ‑ Nachkriegs Ordnung in Deutschland und in Europa mit garantierten Rechten für alle, ohne Ansehen der Person.

 

 Die erstmalige Teilnahme eines deutschen Bundeskanzlers an der Gedenkfeier des D‑Day, der alliierten Landung in der Normandie, ist ein beredtes Zeugnis dafür, das aus konstruierter und geschürter sogenannter "Erbfeindschaft" bereichernde Nachbarschaft und Freundschaft werden kann, kulturelle Horizonterweiterung, Austausch und Wertschätzung. Ein anderes Zeichen für interessierte Partnerschaft sehe ich in der Integration von weiteren zehn Staaten in die Europäische Gemeinschaft, die in diesem Jahr vollzogen wurde.

  

7. Trotz der berechtigten Freude über diese positive Entwicklung in unserem Teil der Welt können wir am heutigen Tag aber nicht darüber hinwegsehen, das in den letzten 60 Jahren unzählige Kriege und militärische Auseinandersetzungen Zehntausende das Leben gekostet haben. Diese wollen wir in unser Gedenken mit einbeziehen und auch die jüngsten Kriegsopfer des Nahen Ostens und Afrikas.

 

8. Vor 215 Jahren, 1789, formulierte die Französische Revolution ihre Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ‑ oder wie wir in Deutschland inzwischen gewohnt sind zu sagen: Geschwisterlichkeit. Die Werte Freiheit und Gleichheit im Sinne von Gleichwertigkeit vor dem Gesetz sind ‑ wenn schon nicht weltweit ‑ so doch wenigstens in den Verfassungen der westlichen Welt und anderer demokratischer Länder verankert und garantiert. Der dritte Wert scheint aber auch nach über 200 Jahren ‑ selbst bei uns ‑ am wenigsten verwirklicht ‑ und im öffentlichen Bereich kaum im Blick zu sein.

  

In unserer Stadt Menden können wir uns immerhin über Beispiele gelebter Geschwisterlich­keit freuen. Aus eigener Erfahrung möchte ich stellvertretend nur das gute Miteinander von Christen und der türkisch ‑ islamischen Gemeinde nennen und das ökumenische Miteinander evangelischer, katholischer und griechisch orthodoxer Christen.

  

9. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Gedenken heißt, zu erinnern, Vergangenes respekt­voll in den Blick zu nehmen, es zu würdigen und bereit zu sein, nach Kräften aus Vergangenem Konsequenzen für ein verantwortungsgerechtes Leben zu ziehen.

 

Und weil Gedenken nicht folgenlos bleiben kann für Gegenwart und Zukunft, möchte ich heute vorschlagen, das wir unser Gedenken erweitern ‑ um den Vorsatz, die Menschen um mich herum, den Menschen neben mir ‑ aufmerksam, respektvoll und wohlwollend im Blick zu haben:

  

Den Menschen, der jeden Tag, jede Stunde jeweils neben mir steht, der die gleiche Luft atmet wie ich, der hofft und bangt wie ich, der liebt und leben möchte wie ich, das ich ihn als Mit­menschen, als Schwester oder Bruder gelten lassen kann.

  

Jeder Mensch in unserer Stadt und auf dieser Erde besitzt die Menschenrechte – nicht, weil sie ihm jemand verliehen oder garantiert hätte, sondern weil er (und sie) Mensch ist.

 

Und als Christ darf ich hinzufügen: Gott sei Dank.

  

Quelle:  Dechant Bernhard Brackhane